Die Stiftungen der Wiener griechischen Gemeinden (18.-20. Jh.)
In den beiden letzten Jahrzehnten wurde das Stiftungswesen als soziales und religiöses Phänomen in den Mittelpunkt historischer Forschung gerückt. Als Förderer der Kunst, Kultur und Bildung, aber auch der sozialen Fürsorge sind Stifter(innen) Teil von Wohltätigkeitssystemen. Hinzu kommt die Integration des Stiftungswesens in einem religiösen Kontext, der mit Erinnerungsritualen und Traditionen des Memorialwesens verbunden ist.
Die Archive der beiden Griechisch-Orthodoxen Gemeinden in Wien, der Bruderschaft/Gemeinde der osmanischen Untertanen zum Hl. Georg (gegr. 1723/26) und der Gemeinde der österreichischen Untertanen zur Hl. Dreifaltigkeit (gegr. 1787) wurden erst durch die Restrukturierung und Katalogisierung zugänglich gemacht, die in den Jahren 2005 bis 2010 erfolgte. Ein umfangreiches, bisher nicht erforschtes Material (von etwa 1780 bis 1918) wurde in ersten surveys bereits gesichtet. Neben individuellen Stiftungen und deren Dokumentation finden sich auch drei von den Gemeinden konzipierte Dokumentengruppen, der "Armenfonds", der "Kirchenfonds" und der "Schulfonds".
In diesem Projektantrag werden Stiftungen als Indikatoren für die Konstruktion der Stifteridentität, aber auch als leitende Strategie der sozialen Integration in die Gastgesellschaft für Mitglieder von Diasporagemeinden betrachtet. Der lange Untersuchungszeitraum ermöglicht sowohl Kontinuitäten als auch Änderungen und Brüche in den Stiftungspraktiken zu beobachten und deren Verhältnis zur sozioökonomischen Modernisierung Wiens zu erforschen. Für die Analyse der Wirkung der Stiftungspraktiken der griechisch-orthodoxen Kaufleute auf das Wiener Fürsorgesystem einerseits und auf Empfänger im Osmanischen Reich und in den jungen Nationalstaaten Südosteuropas andererseits schlagen wir eine mikrohistorische Annäherung durch Fallstudien vor. Zugleich nähern wir uns durch die quantifizierende und statistische Auswertung von größeren Materialmengen den Investitionsbedingungen an, die den Stiftungen von der habsburgischen Administration auferlegt wurden und somit auch das Verhältnis der Stifter(inne)n zu den Organisationsstrukturen der Gemeinden, die die Stiftungen verwalteten, sowie zur Stadt prägten.
Der Fokus des Projektes liegt auf der interkonfessionellen Erforschung der Gedächtnisfunktion von Stiftungspraktiken und schlägt eine innovative dreidimensionale (katholisch, protestantisch, orthodox) Perspektive der europäischen Stiftungsgeschichte der Neuzeit vor. Die Berührung mit der jüdischen und islamischen Tradition wird ebenfalls berücksichtigt. Der Vergleich mit anderen ethnischen oder religiösen Gruppen im Habsburgerreich und deren Stiftungsinstitutionen steht ebenso im Mittelpunkt des Projektes wie die Bewertung der Rolle der postbyzantinischen und osmanischen Traditionen in der Gestaltung des Wiener griechischen Stiftungswesens.
Hauptziele des Projektes sind, einerseits eine Interpretation europäischer Stiftungsgeschichte zu erarbeiten, die interkulturelle Transfers stärker integriert, und andererseits zu einer Betrachtung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen Wiens vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Migrationsgeschichte beizutragen.